Artikel aus „Das Beste – Reader's Digest“:
Tauschringe: Geld spielt keine Rolle
Von Günter Hoffmann
aus Das Beste -
Reader´s Digest 08/2001
Dienstleistungen kosten
etwas. Normalerweise ist das auch so, aber es gibt andere Modelle …
Talente als Währung
Liesel Graf hat ein Problem, das viele kennen: "Ich bin jemand, der gut
geben, aber nicht so gut nehmen kann", sagt die 64-Jährige aus Witten im
Ruhrgebiet. Es fällt schwer, den Nachbarn zu fragen, ob er helfen könnte, ein
Regal anzudübeln. Oder im Krankheitsfall Einkäufe zu machen. Wer versorgt im
Urlaub Katze und Blumen? Wer hilft beim Umzug oder wenn der Computer nicht
funktioniert?
"Früher", sagt Graf, "habe ich mit Schuldgefühlen an die
Personen gedacht, die mir geholfen haben. Denn ich wusste nie, wie ich mich
erkenntlich zeigen konnte." Sie überreichte dann einen selbst gebackenen
Kuchen oder einen Blumenstrauß. Seit vier Jahren ist das anders. "Seit ich
Mitglied im Tauschring bin, habe ich keine Scheu mehr, mir von irgendjemandem
helfen zu lassen. Hier kann ich alles annehmen, weil ich weiß: Die Leistungen
werden gerecht ausgeglichen."
Anfang 1997 las die allein stehende Graf einen Artikel
über die Tausch- und Aktivitäten-Börse für Witten und Umgebung in der Zeitung.
"Da ich kurzfristig handwerkliche Hilfe brauchte, habe ich mich an die
Tauschzentrale gewandt", schildert sie den Beginn ihrer Mitgliedschaft. Es
sind nicht nur Hilfen rund um Haushalt und Garten, die sie jetzt ohne
Schuldgefühle annehmen kann: da ist auch der Fahrdienst, den sie beansprucht,
wenn sie schwere Sachen transportieren muss; sie leiht sich ein Umweltticket
oder lässt sich bei der Ausrichtung eines Festes helfen.
Im Gegenzug hilft sie anderen Tauschring-Mitgliedern bei steuerlichen
Problemen, bietet selbst gebackenes Brot oder selbst gefertigten Jogurt auf dem
Flohmarkt an. Wie der Ringtausch funktioniert, zeigt sich am Samstagnachmittag
bei dem 47-jährigen Ulrich Jankowski. Auch er ist Mitglied in der Tausch- und
Aktivitäten-Börse in Witten. In seiner Wohnung steht die 53-jährige
Sozialarbeiterin Helena Sasse am Herd. Sie bereitet für den allein stehenden
Informatiker das Essen vor, denn Jankowski kocht nicht gern. Während der Woche
kann er zwar in der Kantine essen, aber nicht an den Wochenenden. Kennen
gelernt hat er Sasse über ihre Anzeige in Aktiv in Witten, der Zeitung
des Tauschrings: "Koche nach Wunsch. Für 1-20 Personen, einmalig oder
regelmäßig …"
Wenn das Essen vorbereitet ist, bekommt Sasse für ihre Hilfe allerdings kein
Geld. Stattdessen erhält sie so genannte "Talente". So heißt die
Einheit, mit der alle Leistungen und Waren im Tauschring verrechnet werden.
Ulrich Jankowski stellt einen Verrechnungsscheck über 30 "Talente"
aus, und dieser Betrag wird Sasse auf ihrem Konto bei der Zentrale gutgeschrieben.
Im Gegenzug wird Jankowskis Konto mit dem gleichen Betrag belastet. "Mit
den ‚Talenten' kann ich mir das ermöglichen, was ich mir für Geld sonst nicht
leisten könnte", sagt Sasse. Sie ist allein erziehende Mutter, und mit
ihrer Halbtagsstelle verdient sie nur das Nötigste. Mit "Talenten"
beglich sie etwa die Reitbeteiligung ihrer Tochter oder deren
Nachhilfeunterricht. Sie selbst hat eine PC-Schulung gemacht und die Reparatur
ihrer Waschmaschine ermöglicht.
Bei Jankowski stand der Tauschgedanke ursprünglich nicht im Vordergrund:
"Ich wollte etwas gegen meine Einsamkeit tun, Menschen kennen
lernen." Ein nicht einfacher Schritt für den Informatiker. "Das lag
sicher auch daran, dass ich aus einer anderen Welt komme. Aus der Informatiker-
und Unternehmensberater-Welt mit ihren hoch bezahlten Jobs." Nach dem Ende
seiner Ehe wurde auch der Freundeskreis kleiner. Er wandte sich an den
Tauschring, weil der neben dem Ringtauschauch andere Aktivitäten durchführt:
Wellness-Tage, Fahrten zu sportlichen oder kulturellen Veranstaltungen.
Eine neue Erfahrung für Jankowski, auf Menschen zuzugehen und sich auf sie
einzulassen. "Dass ich das kann, hätte ich nicht geglaubt." An den
Tauschgedanken hat er sich herangetastet. Er musste lernen, seine Fähigkeiten
als Computer-Fachmann nicht anonym gegen Geld, sondern gegen
"Talente" anzubieten. Inzwischen schätzt er die Vorteile. Seine
Geburtstagsfeier hat er ebenso von Tauschring-Mitgliedern organisieren lassen
wie den Umzug seiner kranken Eltern - und natürlich die Kochkünste von Helena.
Um seine "Talent"-Schulden zu begleichen, macht er PC-Beratung, aber
auch Kurierfahrten. Die Tauschleistung von Helena Sasse umfasst rund 25 Stunden
im Monat, die von Ulrich Jankowski zwischen 20 und 30 Stunden. Damit zählen
sie, so Elke Conrad, die Koordinatorin des Tauschringes, zu den aktiveren
Mitgliedern.
Der Wittener Tauschring hat keine Statistik über die Tauschleistungen seiner
Mitglieder. Erfasst wird nur die Gesamtzahl. Die lag für das Jahr 2000 bei über
1100 Tauschaktivitäten. Bis Mai 2001 waren es immerhin schon 450.
Der Boom der Tauschringe
Der erste Tauschring in Deutschland wurde 1992 in Halle a. d. Saale gegründet.
Bereits drei Jahre später fand das erste Bundestreffen der Tauschringe in
Berlin statt, mit Vertretern von 50 Tauschkooperativen. Das System hat
Hochkonjunktur: Mittlerweile sind über 35 000 Menschen Mitglied in einem der
rund 350 Tauschringe, die es inzwischen nicht nur in Städten, sondern auch in
kleinen Gemeinden gibt. In Schriesheim an der Bergstraße wird ebenso selbstverständlich
gegen "Talente" getauscht wie im bayerischen Bad Aibling gegen
"Wendelsteine" oder in der kleinen Gemeinde Prinzhöfte bei Bremen
gegen "Prinzen".
In Witten ist Liesel Graf für die Verbuchung der Tauschleistungen zuständig.
Sie registriert alle eingehenden Tauschmitteilungen, bucht die Guthaben und
Salden auf die jeweiligen Mitgliedskonten und gibt die Kontostände bekannt. Wie
im normalen Bankgeschäft wird auch in den Tauschringen die Registrierung
elektronisch durchgeführt. Damit Leistungen nicht nur abgerufen werden und sich
einzelne Mitglieder auf Kosten anderer bereichern, haben alle Tauschringe einen
Schutz gegen Missbrauch eingebaut: eine Obergrenze für Schulden und Guthaben.
Die liegt in Witten bei 700 Talenten, das entspricht 35 Arbeitsstunden. Wer das
Schuldenlimit erreicht hat, muss erst aktiv werden, um wieder Hilfe
beanspruchen zu können. Wer am Guthabenlimit angelangt ist, muss erst einen
Dienst in Anspruch nehmen, bevor er wieder einen leisten darf.
Tausch ohne Grenzen
Zeitungen sind, neben Floh- oder Tauschmärkten, das wichtigste
Vermittlungsinstrument für die Tauschpartner. In Aktiv in Witten werden neben
den neuesten Nachrichten aus der Tauschring-Bewegung die Angebote und
Nachfragen der Mitglieder kostenlos veröffentlicht. So unterschiedlich die
Mitglieder, so vielfältig die Angebote: Sie reichen von Büroarbeiten, Computer-
und Sprachkursen, Renovierungs-, Umbau- und Gartenarbeiten über Tansporte und
Möbelverkauf bis zu Reisen und Ferienwohnungen. Die über 200 Mitglieder der
Wittener Tausch- und Aktivitäten-Börse kommen aus den unterschiedlichsten
Berufs- und Altersgruppen. Allerdings müssen sie volljährig sein, um Mitglied
zu werden. "Hier sind Mediziner ebenso vertreten wie Lehrer, Facharbeiter,
Studenten, Hausfrauen, Arbeitslose und Rentner", sagt Elke Conrad. Neben
den Privatpersonen sind inzwischen auch zwei Sportvereine sowie das
Mütterzentrum Mitglied. Das Mütterzentrum stellt sein ganzes Programm zur
Verfügung: von der Kinderbetreuung über erste Hilfe bis zum Mittagstisch - natürlich
alles gegen "Talente".
Vorbildfunktion
Am 25. August 2000 unterschrieben Vertreter der Stadt Witten die
Aufnahmebedingungen für den Tauschring. Der Sprecher der Stadtverwaltung,
Jochen Kompernaß: "Die neue Kooperation der Kommune mit dem Tauschring hat
Vorbildfunktion für andere." Es war das erste Mal in der Geschichte der
Tauschring-Bewegung, dass eine Stadt offiziell Mitglied wurde. Die Stadt stellt
Räume zur Verfügung, die der Tauschring gut brauchen kann: für Flohmärkte,
Nachhilfe- und Kochkurse - gegen "Talente". Auf der anderen Seite
will die Kommune Reparaturarbeiten in Jugendeinrichtungen durch
Tauschring-Mitglieder durchführen lassen. Dabei soll es aber nicht bleiben.
Tauschring-Koordinatorin Conrad will den Bürgermeister und den Stadtkämmerer
treffen, um weitere Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten. Über die
Vergabe notwendiger Arbeiten gegen "Talente" könnte die kommunale
Kasse entlastet werden. Umgekehrt könnten Leistungen wie die Gebühren für
Kindergartenplätze, Eintritt für Schwimmbäder oder Konzerte gegen
"Talente" angeboten werden. "Oberste Prämisse für die
Zusammenarbeit mit der Stadt ist jedoch: Wir wollen keine Arbeitsplätze
gefährden", stellt Elke Conrad klar.
Neues Engagement
Die Probleme des Sozialstaates, Dauerarbeitslosigkeit, die steigenden Kosten
der Sozialhilfe, die Veränderungen in der Altersstruktur, um nur einige
Schwierigkeiten zu nennen, lassen sich mit herkömmlichen Handlungsmustern nicht
mehr bewältigen", schreibt Sabine Budtke in ihrer Diplomarbeit "Tauschringe
im Kontext sozialer Sicherung". Auf diese Probleme versuchen Tauschringe
zu reagieren. Auf die wachsende Diskrepanz zwischen Zeit und Geld, auf das
Paradox, dass die Menge unbefriedigter Bedürfnisse ebenso wächst wie die Anzahl
der Menschen mit wertvollen Fähigkeiten, für die die Gesellschaft keine
Verwendung findet. Ob dies, wie in Witten, im alltäglichen Austausch von Gütern
und Leistungen geschieht. Oder ob Senioren in Dietzenbach gegen
"Punkte" Arbeitsplätze für jugendliche Schulabgänger akquirierten.
Das Zukunftskonto
Im März dieses Jahres wurde auf der Mitgliederversammlung des Tauschrings im
Berliner Bezirk Kreuzberg die Einrichtung eines Solidaritäts- und
Zukunftskontos beschlossen. Die Idee: Tauschring-Mitglieder zahlen freiwillig
"Kreuzer"-Beiträge auf ein Konto ein. Die Beträge werden dazu
verwandt, Mitglieder zu unterstützen, die in Not geraten sind. Auslöser für
diese Entscheidung war ein Unfall: Eine allein stehende Rentnerin und aktive
Tauscherin erlitt einen komplizierten Armbruch und brauchte sofort Hilfe. Klara
Brendle, eine der Initiatorinnen des Tauschrings: "Der verunglückten
Rentnerin wurde schnell geholfen. Von ihrer Familie, aber auch von den Freunden
aus dem Tauschring. Sie halfen im Haushalt oder machten Besorgungen; andere unterstützten
sie mit ‚Kreuzern'." Diese spontane Hilfe soll mit dem neuen Solidaritäts-
und Zukunftskonto fester Bestandteil des Tauschrings werden. "Erstes Ziel
ist es, die Betroffenen dabei zu unterstützen, selbst wieder auf die Beine zu
kommen. Wenn sie aber länger krank sind, soll der Tauschring Hilfe bei der
Versorgung und Pflege mitorganisieren", sagt Stefan Purwin, neben Brendle
einer der Gründer des Berliner Rings.
Eine zweite Gruppe, die in den Genuss von Zuwendungen kommen soll - allerdings
in Form von Spenden -, sind Projekte und Arbeitsgemeinschaften, die sich
innerhalb des Tauschrings bilden. Wie beispielsweise die Elterninitiative, die
einen heruntergekommenen öffentlichen Kinderspielplatz säubern und umgestalten
will. Das Solidaritäts- und Zukunftskonto signalisiert eine neue Qualität von
sozialem Handeln innerhalb der Tauschringe. Purwin: "Das Zukunftskonto
lebt nur, wenn Menschen sich innerhalb ihres Stadtteils engagieren. Wenn sie
das Gefühl haben: Ich nehme im Stadtteil etwas in die Hand und bekomme auch
Unterstützung."
Bedeutung der Tauschringe
Die nachhaltige Stärke der Tauschsysteme liegt in der Vielfalt ihrer
Mitglieder. So unterschiedlich sind die Gründe, die Menschen zum Engagement
bewegen: Bei den einen stehen wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund. Andere
betrachten die Tauschringe wie ein Ehrenamt oder suchen ein Forum, in das sie
ihre Kreativität einbringen können. Vor rund neun Jahren sind die Tauschringe
als Selbsthilfeprojekte ohne staatliche Förderung entstanden. Heute erwirtschaften
ihre Mitglieder einen Umsatz von schätzungsweise 25 Millionen Mark.
Volkswirtschaftlich eine vernachlässigbare Größe.
Die Bedeutung der Tauschringe liegt aber darin, dass sie als selbst verwaltete
Projekte heute vielerorts zu einer festen Institution geworden sind. Dass
Kirchen, Wohlfahrtsverbände und selbst Kommunen inzwischen Tauschringe gründen
oder Mitglied werden, zeigt, dass deren Potenzial bei weitem noch nicht
ausgeschöpft ist. Für Liesel Graf ist jedenfalls das spannendste, "dass
sich der Tauschring nach all den anfänglichen Schwierigkeiten wirklich toll
entwickelt hat. Ich hätte nie gedacht, dass er einmal so gut funktionieren und
wir jetzt über 200 Mitglieder haben würden."
Im Internet findet man weitere Adressen zu Tauschringen unter: http://www.tauschring.de/ oder : http://www.tauschring-archiv.de/ oder : http://www.tauschringportal.de/
Für Österreich gibt es weitere Informationen unter: http://www.tauschkreis.at/
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